Wozu Lyrik Heute?

lyrik

Wozu Lyrik heute?

Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft

(1968)

Hilde Domin, in: Abel Steh auf. Gedichte, Prosa, Theorie, Stuttgart 2008 (Reclam) p. 75-91

Lyrik und Gesellschaft

. . . wenn der Mensch erst wirklich zu dem manipulandum wird, für das er sich hält, dann … treten wir ein in ein Zeitalter, in dem es nicht >wahr< noch >unwahr< mehr gibt: in einen Schlaf oder Alptraum, aus dem nichts uns aufweckt.

Merleau-Ponty

Wozu Lyrik heute? Wozu sollen wir Lyrik lesen, wozu schreiben wir Gedichte? Heute? Wenn man so fragt, so fragt man fast schon »noch heute?«. Als hätte gestern allenfalls einen Sinn gehabt, was heute der Entschuldigung bedürfe. Zwei extreme Antworten sind sofort zur Stelle, beide ablehnend. Die erste lehnt die Frage ab: Es gibt hier kein >Wozu<. Lyrik, wie alle Kunst, ist Selbstzweck. Heute und immer. Aber gerade darum geht es: Alles, worauf es in Wahrheit ankommt, ist Selbstzweck, das heißt unnütz und unverzichtbar zugleich. Und heute vielleicht unverzichtbarer als je. Auch Lyrik. Es geht hier um den Nachweis dieser Unverzichtbarkeit, um eine Untersuchung, was damit gemeint ist.

Die zweite Antwort lehnt die Sache ab: In einer Zeit wie der unsern solle man etwas Nützlicheres tun, man solle die Wirklichkeit ‘verändern’. Kunst aber verändere die Wirklichkeit nicht. Besser studiere man den politischen Teil der Zeitungen als Gedichte zu lesen oder zu schreiben. Was nicht nur keine echte Alternative ist, sondern im Grund nur die strapazierte – längst zurückgenommene – Feststellung Adornos- neu aufnimmt, daß Lyrik durch Auschwitz unmöglich geworden sei. Also daß Lyrik der Wirklichkeit gerade dieser Zeit nicht genügen könne.

Ich wiederhole die Frage konkreter: Hat Lyrik noch eine Funktion innerhalb der Realität unseres modernen Lebens? Wenn ja, welche? So formuliert, heißt das Thema: Dichtung und Wirklichkeit. Oder auch Dichtung und Freiheit. Sobald aber nach Lyrik als Übung im Gebrauch von Freiheit  gefragt wird, ist die Frage schon ganz nah an der andern, der nach der Umgestaltung der Wirklichkeit. Denn, im Gegensatz zu Kunst, ist die Veränderung der Gesellschaft keinesfalls Zweck in sich, sie dient der möglichen Freiheit des Menschen, seinem Menschsein. Oder sie ist gleichgültig. Insofern drehen sich beide Fragen um eine gemeinsame Achse.

Auf jeden Fall handelt es sich um die Wirklichkeit.  Ich  zitiere Joyce, der seinen Entschluß, sich dem Schreiben zu widmen, mit diesen Worten ankündete: »I go to encounter for the millionth time the reality of experience«, »Ich gehe zum millionsten Mal der Wirklichkeit der Erfahrung entgegen. «

So tückisch wie die Wirklichkeit, die wir erfahren, war Wirklichkeit wohl nie zuvor. Sie droht, ‘die Wechselwirkung zwischen uns und ihr zu zerstören, uns auszulöschen, auf die eine oder andere Weise. Die subtilere Gefahr scheint fast die unheimlichere: Es gibt sie und es gibt sie nicht.

Jeder spricht von ihr. Keiner bezieht sie auf sich. Als sei sie ein Schnupfen, den die andern bekommen, und man selber > sei immun. Die Gefahr heißt >Verdinglichung<, Metamorphose ins Ding, in etwas Manipulierbares: Verlust unserer selbst.

Kann die Lyrik uns noch helfen, einer so gearteten Wirklichkeit zu begegnen?

Ich glaube, daß Regel unrecht hat mit der Prognose, die Wissenschaft könne und werde den Dichter ersetzen. Und daß es das Ende von mehr als nur der Dichtung wäre; wenn er recht behielte. Vom Naturwissenschaftler kann in diesem Zusammenhang ohnehin nicht die Rede sein. Er >verändert< die Wirklichkeit im buchstäblichen Sinne, mehr noch als die Politiker schafft er die Konditionen, in denen Leben gelebt wird. Die Wirklichkeit, die Naturwissenschaft und Technik herstellen, ist aber nur das >Wie< unseres >Was<. Sie ist die Vorbedingung. Sie ist nicht das Leben selbst (oder doch vorläufig nicht). »Nicht darauf, was man aus dem Menschen gemacht hat, kommt es an. Sondern auf das, was er aus dem macht, was man aus ihm gemacht hat…, statuiert programmatisch Sartre.

Der Soziologe und der Psychologe passen den Menschen ein in die vorgegebenen Muster. Oder sie schlagen bessere Muster der Einpassung vor, >klären auf< über die Mängel der bestehenden. Der Soziologe, der Psychologe stellen also auf einer neuen Stufe Bedingungen her, in denen Leben gelebt wird, Modelle des Lebens und überlebens. In den Worten Sartres: sie ‘machen’ wiederum etwas aus uns.

Was hat der Lyriker in die Waage zu werfen? Ist er am Ende eine Instanz, die hilft, etwas aus dem zu machen, was man aus uns gemacht hat? Ein Wendepunkt, eine Zuflucht in diesem fatalen Prozeß?

Der Dichter tut, was er immer tat und immer tun wird, gleichgültig, was für eine praktische Form das Leben nimmt, ob wir zu Pferd reisen (ich selber habe es noch während des Krieges in Lateinamerika getan), im Zug oder in Superraketen, von Kontinent zu Kontinent oder von Stern zu Stern. Der Lyriker bietet den Menschen etwas, das nicht wieder nur Vorbereitung für etwas anderes wird: das >Unnütze< und zugleich >Unverzichtbare<, wie wir es definierten, das, worauf es in Wahrheit ankommt.

Der Lyriker bietet uns die Pause, in der Zeit stillsteht. Das heißt, alle Künste bieten diese Pause an. Ohne dies Innehalten, für ein >Tun< anderer Art, ohne die Pause, in der Zeit stillsteht, kann Kunst nicht angenommen werden, noch verstanden noch zu eigen gemacht. Darin ist die Kunst der Liebe verwandt: Beide ändern unser Zeitgefühl.

Gleiches, aber doch nicht das Gleiche bieten uns die verschiedenen Künste an auf dieser Insel ihrer eigenen Zeit – einer Insel, von der immer wieder gesprochen wird und die es schon bei Mallarme und bei Hofmannsthal gibt, die Insel, die auftaucht mitten im Mahlstrom der Geschäftigkeit und die nur während einiger Augenblicke existiert, während einiger Atemzüge. Was also bietet Lyrik an, auf dem prekären Boden, der auftaucht: diese besondere Verbindung · von ratio und Erregung, die Kunst des Worts und des Nichtworts?

Die aktive Pause. Identität als Voraussetzung von Kommunikation. Die Einbeziehung des Einzelnen in das Erfahrungsmuster

Lyrik lädt uns ein zu der einfachsten und schwierigsten aller Begegnungen, der Begegnung mit uns selbst. (»Die ganze Weltgeschichte«, sagt Benn, »die ganze Menschheit zehrt von einigen Selbstbegegnungen.« Sie sind die exemplarischen (von den andern wissen wir nichts). Die Selbstbegegnung des Lyrikers ist weithin sichtbar, er vollzieht sie stellvertretend, aber auch er ist ihrer nicht habhaft. Der Lyriker selbst ist kein Beispiel, er macht im Einzelfall das Beispielhafte sichtbar: sein >Muster<, seine innere Notwendigkeit. »Im Dichter kommt die Menschheit zur Besinnung und zur Sprache«, sagt Jean Paul, »darum weckt er sie wieder leicht in andern auf.« »Er ist eine Abbreviatur der Menschheit«, heißt das in der letzten Formulierung, der von Lukács. Daher ist die Selbstbegegnung des Lyrikers zugleich einmalig und Modell von Begegnung überhaupt: mit den andern, mit der Wirklichkeit. Unwiederbringlicher Augenblick, Zeit außer der Zeit. Im Gedicht ist er eingefroren, auftaubar. Wirklicher als die Wirklichkeit: ihr jeweils neu und anders realisierbarer Potentialis.

Lyrik gibt nur die Essenz dessen, was dem Menschen widerfährt. Sie verbindet uns wieder mit dem· Teil unsres Seins, der nicht angetastet ist von den Kompromissen, mit unsrer Kindheit, mit der Frische unsrer Reaktionen. Ich sage >Reaktionen<, um nicht zu sagen: unseres Gefühls, obwohl  ich mich hier mit einem so zerebralen und kühlen Lyriker wie z. B. Jorge Guillén treffe. »Tu niñez / Ya fábula de fuentes« – Deine Kindheit / Sage schon im Mund der Brunnen.« Und indem uns die Lyrik mit uns selbst verbindet,  mit dem eigenen Ich, verbindet sie uns auch mit den andern, gibt sie uns die Möglichkeit der Kommunikation wieder. Das ist, was, denke ich, die Dichtung anzubieten hat: in höherem Grade als jede andere Kunst und auch als jede andere Beschäftigung des Geistes.

Die Mitteilung des nicht – oder doch kaum – Mitteilbaren: das ist also die Aufgabe des Lyrikers. Dazu wird sein Gedicht >gebraucht<. Es ist aber schon nicht mehr >sein< Gedicht, wenn es gebraucht wird. Es geht nicht mehr um seine Selbstbegegnung, sondern um die Selbstbegegnung von andern, denen das Gedicht dazu verhilft: um die Begegnung dieser andern mit ihrer eigenen Erfahrung. Das Gedicht macht sie sichtbar, es benennt und macht benennbar und -also sagbar, was dunkel da war und plötzlich ins Bewußtsein gehoben wird. Die benannte Erfahrung tritt dem Menschen gegenüber als etwas Objektives und wird auf eine neue Weise vollzogen: als sein Eigenstes, das aber doch auch andern widerfährt, ihn mit der Menschheit verbindet, statt ihn auszusondern. Er ist einbezogen und mitgemeint.

Das erregt und befreit zugleich. Er kann es sich sagen, und er kann es weitersagen, ganz wie der Autor selbst es weitergesagt hat. Die Katharse ist Monolog und Aufhebung des Monologs. Das Gedicht ändert sich unmerklich, wenn es sich mit dem Ich des Lesers füllt. Und auch die eigene Erfahrung des Lesers bekommt etwas von der Farbe des Gedichts, wird stärker, bunter, anders als er es von sich erwartet und auch als er es, ohne gerade diese Formulierung, vielleicht je erfahren hätte. – Für den Autor natürlich bleibt das Gedicht ein Teil seiner Biographie, wie der Augenblick der höchsten Identität mit sich selbst,· der ja zugleich höchste Selbstentäußerung ist, für jeden ein Teil des gelebten Lebens bleibt (das gilt für den Leser wie für den Autor, für jeden), obwohl auch der Autor es irgendwann neu und überraschend anders lesen könnte. Das Gedicht hat sich losgelöst von ihm, ‘der im Zufälligen, nicht im Beispielhaften lebt. Es ist nicht rückführbar auf den mit Zufälligkeiten behafteten Lebensumstand, aus dessen Überwindung es ja gerade entstanden ist.

Das Gedicht, selbständig geworden, ist also eine Art Gegenstand, den Dritte >brauchen<, das heißt: dessen sie bedürfen und dessen sie sich auch bedienen können. Man hat gesagt, daß das Gedicht ein Gebrauchsartikel sei wie jeder andere. Enzensberger legte seinem zweiten Lyrikband Landessprache eine Gebrauchsanweisung bei (»Gebrauchsanweisung für unerschrockene Leser«), wobei er nur Brechts Hauspostille folgt, die Brecht schon im Jahre 1927 mit einer »Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen« versehen hatte. Auch moderne amerikanische Lyriker wie William Carlos Williams haben das Gedicht als  >Gebrauchsartikel< angesprochen, und auch ich tue es. Mit einem Unterschied: Das Gedicht, glaube ich, ist ein Gebrauchsartikel eigener Art.

Es wird gebraucht, aber es verbraucht sich nicht wie andere Gebrauchsartikel, bei denen jedes Benutzen das Abnutzen in sich schließt. Im Gegenteil, es ist eines jener >Dinge<, die wie der Körper der Liebenden in der Nichtbewahrung recht eigentlich gedeihen. Neu gestaltete Erfahrungen, verfügbar werdende Assoziationen wachsen dem Gedicht unablässig zu und vermehren, vertiefen und erweitern es, je nach den Notwendigkeiten seiner Gebraucher. Es’ ist daher ein >magischer Gebrauchsartikel<, etwas wie ein Schuh, der sich jedem Fuß anpaßt, der ohne ihn den Weg in das Ungangbare nicht gehen könnte, den Weg zu jenen Augenblicken, in denen der Mensch wirklich identisch ist mit sich selbst. Etwas, das er im täglichen Leben eben nicht ist. Denn gerade das ist das Wesen der Funktionalisierung, daß die Identität verlorengeht, der Mensch zum >Treffpunkt seiner Funktionen< wird. Um so wichtiger, um so unentbehrlicher ist jener magische Gegenstand, jenes Sesam-öffne-dich, das die Lyrik ist.

Gleichschaltung durch das Geheimkommando neutral. Lyrik als Widerstand gegen Neutralisierung. Der Mut zur Identität

Der Lyriker, das würde daraus hervorgehen, .besitzt in hohem Maße die Identität mit sich selbst, zumindest im schöpferischen Augenblick (der sich vom schöpferischen Augenblick des Lesers nicht oder doch nur durch den Grad der Intensität  unterscheidet). Um sie zu realisieren, um diesen heiklen Balanceakt zu leisten, noch dazu vor aller Augen, bedarf er – unter andern – des Muts. Es kann gar nicht genug gesagt werden, daß Kunst von Mut lebt. Am meisten aber die Dichtung, die sich nicht >herausreden< kann, sondern >hereinreden< muß. Sie ist geradezu eine Erziehung .zum Mut, verdirbt ohne ihn, er ist so wichtig wie das handwerkliche Können. Der Mut, den der Lyriker braucht, ist dreierlei Mut, mindestens: der Mut zum Sagen (der der Mut ist, er selbst zu sein), der Mut zum Benennen (der der Mut ist, nichts falsch zu benennen und nichts umzulügen), der Mut zum Rufen (der der Mut ist, an die Anrufbarkeit des andern zu glauben). Durch das Nadelöhr seines Ich muß er hindurch ins Allgemeine: in die punktuelle, die paradoxe Wahrheit der unwiederholbar einmaligen und zugleich doch beispielhaften Erfahrung, in die >wirklichere Wirklichkeit<.

Der umgekehrte Weg ist kein Weg. »Für alle wollte ich sprechen und konnte nicht sprechen für mich«, klagt einer unserer jüngsten Lyriker, und diese Erfahrung wiederum, diese seht persönliche Klage, wird sofort zu etwas Paradigmatischem: Kaum spricht er sie aus, kaum verzichtet er darauf, >für die andern zu sprechen<, so spricht er auch schon für sie mit. Das ist die innere Dialektik der Dichtung, in der nichts ohne seine Gegenseite ist, und in der man nichts >wollen< darf und auf alles verzichten muß außer auf den Mut zur Wahrhaftigkeit.

Dabei ist es eine gewisse Erleichterung, daß man allmählich weiß und antizipieren kann, daß das Gesagte sich unter den Händen entpersönlicht, >verfremdet< (es tut dies immer schneller), und daß es zu einer Glaskugel wird, in der jeder die -eigene Wirklichkeit und die eigenen Träume sieht. Denn Scheu kann der Lyriker sich nicht leisten, er kann sich nicht den Erwartungen anpassen und seine Erfahrung (seine >Träume< sind ein Teil dieser Erfahrung) nicht verleugnen noch kastrieren’. Er muß taube Ohren haben für das zugeflüsterte »neutral«.

>Neutral< ist heute das Modewort. Mit der Parole >neutral< wird der Mensch der modernen Gesellschaft uniformiert, mit ihr wird er gleichgeschaltet. Neutral aber kann allenfalls der Hintergrund sein, auf dem der Mensch sich bewegt. Ein neutraler Hintergrund gibt Freiheit für die Bewegung des Menschen. Der Mensch selbst kann und soll nicht neutral sein, er ist kein Gegenstand unter Gegenständen. Kein Baustein, der sich beliebig verwenden läßt. Hier haben wir, ganz konkret, die Bedrohung, die >keiner auf sich bezieht< die Verdinglichung. Es ist eine ihrer vielen Formen. Der Mensch muß sich weigern, >Vorauskonformist< zu sein auf dem Wege seiner Verwandlung in den Apparat. Das Wort >neutral< hat keine Anwendung im Humanen. Und am wenigsten in der Kunst. Und schon gar nicht in der Lyrik. Lyrik ist das Anti-Neutrale schlechthin.

Den >Mut seiner Erfahrungen< zu haben, ohne den es Lyrik nicht gibt, ist, gegen den Trend zu gehen, nicht zu sein wie jeder: nicht verwechselbar, nicht berechenbar und daher nicht >verwendbar<, eben lebendig. (Lebendig und neutral sind Begriffe, die einander ausschließen.) Und zu >rufen<, vox clamans zu sein, Stimme, die die andern aufruft, am Leben zu bleiben, Stimme, die- sie verletzt und verletzbar erhält. Damit sie Partei ergreifen, wo neutral zu sein Unmenschlichkeit ist. Dazu müssen sie vor allem sie selber sein, sonst ist nichts da, an das appelliert werden könnte und das Widerstand leistet. Oder Hilfe leistet. Täglich >sterben< die Menschen und gehen einher als Puppen ihrer selbst. Jeder Lebende erfährt es, zumindest in den hochindustrialisierten Ländern, daß heute schon die Halb- und Dreiviertelstoten die Mehrheit sind. Die Zeitungen sind voll von Berichten darüber. Der >Halbtote< ist der programmgerecht funktionierende Mensch, der nur noch auf Störung seines Konsums reagiert. >Lebend< ist, wer nicht erträgt, daß sein Weltbild zerstört wird. (»Nur innerhalb der Wahrhaftigkeit kann ich vergnügt und ruhig sein.« Dieser Satz Peter Hilles umschreibt ungefähr, was hier gemeint ist.) Die Halbtoten sind kein mögliches Gegenüber für die Kunst. Nicht für Lyrik und für gar keine Kunst. Es würde die Erfahrung fehlen, die in Kunst kondensiert und virulent gemacht und auf ein allerhöchstes Potential gebracht wird, das das eigene· Potential der Menschen erhöht. Was der Lyriker sagen würde, falls einer überlebte, wäre dann verurteilt,

Partikuläres mitzuteilen, nicht mehr Gültiges. Denn es würde für niemanden mehr verbindlich sein. Sicher ist, daß die großen >Muster{ allen Lebens sich zu Schemen zu entleeren drohen, in denen sich die Figuren wie Marionetten zusammenfinden. (Ein Teil der überkommenen >Muster< wird infolge der veränderten  Lebensumstände zwangsläufig obsolet.) Es würde dann aber nicht nur die Kunst an ein Ende kommen, es würde der Mensch als Mensch nicht weiterexistieren, eine aussterbende Art wie die Riesenfarne, die wir in den Gewächshäusern noch anstaunen dürfen.

Daher ist der Lyriker heute, in einer sich schematisierenden Gesellschaft, durch seine bloße Existenz schon »Sand in den Rädern« (Eich). Er ist »Unruhe« (Grass), er kann gar nichts anderes sein. Außer er lüge die Wirklichkeit um, in andern Worten: er sei gar kein Künstler, sondern ein Lieferant von Dekorationen. Er, der sich nicht davonmachen kann wie jeder Dritte, in eine >falsche Wirklichkeit<, ist der Zeitgenosse par excellence. (Heute leben heißt nicht ohne weiteres schon >Zeitgenosse< sein. Zeitgenosse sein ist eine Bewußtseinsfrage.) Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß der Lyriker, der den Menschen hinführt zu sich selbst, ihn nicht etwa wegführt in ein Abseits, sondern hin zu seiner ihm aufgegebenen Wirklichkeit, daß er ihn hellhöriger macht für die Zeit, in der er lebt.

[ … ]

Der Lyriker als Sprachhygieniker. Das ‘Benennen’ der Wirklichkeit- ihre Mitteilbarkeit

Durch Benennen macht Lyrik die Wirklichkeit, das Heute, sichtbar. Sie verhilft der Wirklichkeit zur Wirklichkeit. Ganz wie sie dem Menschen zu sich selbst verhilft. Die unverlogen, unerschrocken benannte Wirklichkeit wird deutlich erkennbar. Nur so kann man ihr gegenübertreten. Der Lyriker erhält sie, die mit Schlagworten und mundgerechten Definitionen schematisierte, lebendig: lebendig und verletzend. Wo die Politik – und auch die Reklame – zu vernebeln tendiert und Entscheidung verdeckt, hält er die Wirklichkeit ins Licht des genauen Worts, zeigt sie auf, in  all ihrer Fragwürdigkeit. Er ist mehr als jeder andere ein Sprachhygieniker. Denn für den Lyriker gibt es keine wichtigen und keine unwichtigen Worte. Jedes Wort wird von ihm geprüft und immer .

neu geprüft, damit es genau auf die immer sich wandelnde Wirklichkeit paßt. Das ist eine gesellschaftliche Funktion ersten Ranges. Ich meine das im Sinne des Konfuzius: »Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist; ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man keine Willkür in den Worten. Das ist alles, worauf es ankommt. « Daher ist es so wichtig, daß eine runde Schale »rund« und nicht »eckig« genannt wird (Konfuzius), wie daß das Gefängnis nicht >Schutzhaft< heißt und Mord nicht ‘Sonderbehandlung’. Jede kleinste Verschiebung zwischen dem Wort und der mit dem Wort gemeinten Wirklichkeit zerstört Orientierung und macht Wahrhaftigkeit von vornherein unmöglich. Niemand aber ist eine feinere Waage für die Worte als der Lyriker. Deshalb erfüllt jedes Gedicht;, das Sprache erneuert und lebendig hält, eine Funktion für alle – und das ganz unabhängig von seinem Inhalt -, denn es hilft, die Wirklichkeit, die sich unablässig entziehende, benennbar und gestaltbar zu machen.

Die benannte Wirklichkeit wird nicht nur sichtbar – und auch greifbarer, auf Augenblicke zumindest -, sie wird zunächst einmal sagbar und mitteilbar, sie wird Gegenstand der Kommunikation, des unerläßlichen Gesprächs. »Das Versagen der Kommunikation ist der Anfang aller Gewalttätigkeit. Wo die Mitteilung aufhört, da bleibt nichts als Prügeln, Verbrennen, Aufhängen.« Die Mitteilung über Erfahrung lebendig zu halten, vermag wiederum jedes Gedicht, gleichgültig welche Erfahrung formuliert ist.

Die Problematik des politischen Gedichts

Soweit sich der Lyriker aber vornimmt, ausdrücklich und im engsten Sinne zur Gestaltung der Gesellschaft beizutragen, indem er die }allgemeine Sache< zum Thema wählt, so hängt es, wie bei jedem Gedicht, davon ab, wie sehr das politische Thema ihn selber erregt und wie sehr es von einer >allgemeinen< zu seiner eigenen Sache wird. Dabei ist ihm keine erstbändige Erfahrung im Sinne biographischer oder topographischer Belegbarkelt abzuverlangen, jede Erfahrung, auch die fernste, kann für den Lyriker zur >ersthändigen< werden, wenn er sie als Schock erfährt, etwas, das ihm zustößt, jenseits seines Programms. ‘Erkenntnis ist Voraussetzung, aber sie reicht nicht. Nur was ihm unter die Haut geht, wird andern unter die Haut gehen. Das politische Gedicht, wie jedes Gedicht, ist daher so virulent, wie es als >Gedicht< virulent ist. (Wobei der Begriff des politischen Gedichts in sich fragwürdig ist – ist Celans Todesfuge ein politisches Gedicht? – und besser durch den von Krolow vorgeschlagenen des >öffentlichen< Gedichts zu ersetzen wäre.) Die große Mehrzahl der öffentlichen Gedichte sind nicht >wirksamer< als andere Programmgedichte und meist schwächere Konkurrenten publizistischer Analyse oder auch einer guten Fernsehreportage. Im Glücksfall aber ist das >öffentliche< Gedicht so groß wie sein Vorwurf, und einige öffentliche Gedichte unserer Zeit gehören zu den besten vielleicht nicht nur dieses Jahrhunderts.

Der Lyriker zwischen Gestern und Übermorgen. >Innehalten<: der Atemraum für Freiheit

Lynkeus, »Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt«: Was bewacht er, wogegen bewacht er es, in jeder neuen Konstellation? Davon hängt ab, was für einen Stellenwert sein Wächteramt hat. Was für einen Stellenwert das Tun des Lyrikers hat. Das geschichtliche Vorzeichen eines jeden Tuns.

Es ist merkwürdig zu denken, daß zu Lebzeiten unserer Eltern gesagt werden konnte: »Wir möchten lachend leben in unserer hellen Zeit.« Wir, ·die wir von Finsternis zu Finsternis leben, ob wir durch unser Sträuben ein weniges ändern? Ob dies »supplément d’ame«, das Lyrik ist, in seiner >punktuellen< Dosierung dazu beiträgt, daß die Entwicklung nicht stracks hineinläuft in den »Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt«?

Der Lyriker ist der äußerste Gegensatz zum Computer. Aber wir sind keine >Computer-Stürmer<, wir benutzen jedes neue Instrument mit Spaß. Der Lyriker tritt an im Machtkampf des Menschen mit dem Homunculus: für die Benutzung des Etektronengehirns als ein Instrument der Befreiung des Menschen. Und gegen jede gesellschaftliche Entwicklung, die es umgekehrt benutzt. Er kann gar nicht anders. Sein Heute ist Kreuzpunkt von gestern und übermorgen. Um dieses >Übermorgen<, um seiner Möglichkeit willen, ruft der Lyriker, Einzelner, die Menschen an. Und labil und hilflos vereinzelt wie sie sind, und die Brüchigkeit der Welt macht sie weiter suszeptibel, sind sie heute besonders anrufbar. Dies ist keineswegs eine schlechte Zeit für Lyrik. Im Gegenteil. Sie wird gebraucht von den Vereinzelten, gegen die Vereinzelung.

Indem das Gedicht dem Menschen hilft, er selbst zu sein, indem es ihm hilft, die eigene Erfahrung zu benennen und mitzuteilen, hilft es ihm, der Wirklichkeit Herr zu werden, die ihn auszulöschen droht. Denn sobald wir unsere Erfahrungen, und noch die unerträglichsten, genau benennen, leben wir sie von ihrem anderen Ende her, von dem menschlichen und nicht dem verdinglichten: als ob wir frei wären, sie anzunehmen oder abzulehnen. Wir sind für einen Augenblick Subjekt, nicht Objekt der Geschichte. »Wir machen etwas aus dem, was man aus uns gemacht hat.«

Es ist dies eine Illusion, gewiß. Und doch mehr als eine Illusion. Etwas, was sich im Bewußtsein abspielt, in einem Augenblick des >Innehaltens< in der Zeit, einem Augenblick höchster Identität und Befreiung. Etwas, was wirken kann über diesen Augenblick hinaus, oder auch nicht. In dem Innehalten ist das ,. Unvorhergesehene«. Seine Möglichkeit. Ein Sprungbrett ist da, von dem gesprungen werden kann, wo sonst gestoßen würde. Atemraum für etwas wie Entscheidung.

lyrik

 

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