Mozes in de ogen van Blanchot

M. Blanchot, Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, Zürich Berlin 2010, (Diaphanes) p. 219-226 en 251-252 (Moses)

Dank (sei gesagt) an Jacques Derrida

Nach einem so langen Schweigen (Jahrhunderte über Jahrhunderte vielleicht) werde ich wieder beginnen, über Derrida – nicht zu schreiben (was für eine Vermessenheit!), sondern es mit seiner Hilfe zu tun, und in der Überzeugung, ihn alsbald zu verraten. Eine Frage: Gibt es eine Thora oder zwei Thorot? Antwort: Es gibt zwei, weil es notwendigerweise nur eine gibt. Diese, die einzig und in jedem Falle zweifach ist (es gibt zwei Tafeln, einander zugewandt von Angesicht zu Angesicht), wird vom Finger »Gottes« (aus Unvermögen, ihn zu nennen, nennen wir ihn so) geschrieben und wieder geschrieben.  Moses hatte, die Stimme transkribierend, wie ein treuer Schreiber ein Diktat verfassen können. Die Stimme hört er sicher immer noch: Er hat das »Recht« zu hören, aber nicht zu sehen (außer ein Mal den Rücken, als er eine Nicht-Gegenwart sah, zudem verhüllt). 

Aber es verhalt sich anders. Die Thora ist geschrieben, doch nicht nur, um aufbewahrt (im Gedächtnis behalten) zu werden, sondern auch, weil »Gott« vielleicht der Schrift eine Vorrangstellung einräumt und sich als erster und letzter Schriftsteller offenbart. (Niemand anderes außer ihm besitzt die Macht zu schreiben.) »Und mit welchem Recht schreibst du nun hier?« – »Aber ich schreibe nicht. « Was sich daraufhin ereignet, ist bekannt, obwohl es verkannt bleibt (bekannt in der Form einer Geschichte). – Wahrend Moses ausblieb (vierzig Tage, vierzig Nachte Abwesenheit – die Anzahl der Jahre der Durchquerung der Wüste), zweifelte das Volk und verlangte nach einem anderen Herrn oder anderen Führer. Ich führe hier eine Deutung ein, die sicherlich verfälschend ist. Moses’ Bruder Aaron, der die Gabe der Rede besaß, die seinem Bruder fehlte (wir werden darauf zurückkommen), behalf sich mit einer List (die List spielt eine große Rolle in der hebräischen Geschichte, wie auch in der griechischen: Die Wege verlaufen nicht gerade – das ist ein Unglück, ein Unglück, in dem für uns das Gebot liegt, das Rechte zu suchen). Aaron verlangt von jeder und jedem, Verzicht auf seine kostbaren persönlichen Schmuckstücke zu leisten: Ohrringe, Halsketten, Ringe usw. – kurz gesagt, er raubt ihnen ihre Hülle und fertigt aus dem, was ihr Eigenturn war, etwas, ein Objekt, eine Gestalt, die ihnen nicht gehört. Was war das Vergehen Aarons an dieser geschickten List, zu der er sich verirrte? Er wurde Künstler, er müsste sich die Schöpfungsmacht an, selbst wenn das Bild, das er fertigte, das Misstrauen derer, die es bewunderten, hatte hervorrufen müssen (ein Kalb und ein goldenes Kalb). Anders gesagt kehren die Hebräer zu den Göttern Ägyptens zurück, des Landes, in dem sie Sklaven gewesen waren (das Kalb erinnert vielleicht an Anubis, den Schakalskopf oder den Stier Apis). Dort waren sie unglücklich gewesen, im höchsten Masse unglücklich, und sie hingen dem nostalgisch nach. Gegenwärtig waren sie frei, aber sie fühlten sich nicht in der Lage, das Gewicht dieser Freiheit, ihre Aufgabe und Verantwortung zu tragen.

Es scheint, dass Moses, allein in der Hohe mit seinen Tafeln, auf denen die souveräne und allererste Schrift geschrieben stand, von all dem nichts ahnte. »Gott« musste ihn warnen: Steig wieder hinab, steig wieder hinab, unten geschieht eine Katastrophe. Moses stieg wieder hinab – und sieht die Verheerung. Nun die Wut der Zerstörung: Das Ägyptische Kalb wird zu Staub zermahlen, das Bildnis verschwindet und das kostbare Material (das Gold) wird verworfen, zerstört. Aber die Zerstörung geht noch weiter, denn Moses zerstört, zerbricht die Tafeln. Wir fragen uns: Wie ist das möglich? Wie kann Moses das Unzerstörbare zerstören: die nicht von ihm, sondern vom Allerhöchstens geschriebene Schrift? Bedeutet dies: Alles verlischt, alles muss gelöscht werden? Es hat nicht den Anschein, als würde »Gott« ihm diese Handlung, die man zu Unrecht als bilderstürmerisch bezeichnen konnte, übelnehmen. Im Gegenteil kennt die Wut keine Grenzen. Das Volk, das so oft gerettet wurde, ist bedroht, ist von Zerstörung bedroht. Mit diesem Volk, das für seine Halsstarrigkeit bereits berühmt (und gerühmt worden) ist (ein Hals, den das Joch der Sklaverei starr gemacht hat), ist nichts anzufangen. »Gott« ist ein oder zwei Mal (vielleicht after) versucht – Versuchung, die dazu bestimmt ist, Moses zu befallen: Die gesamte Vergangenheit abzuschaffen und mit Moses allein erneut zu beginnen, mit ihm, der das Gesetz fortleben lassen und ein neues Volk erzeugen wird (was sicher nicht bedeutet, dass sein Ursprung ein anderer wäre – ägyptisch zum Beispiel – aber dennoch anders, da er sich für alle anderen verantwortlich weiß – Ah, eine schwere Aufgabe). 

Aber Moses, dieser befremdliche Mensch, fremd geworden durch seine Aufgabe und die Wahl, die er, um sie zu erfüllen, vollzog (warum hat er eine Frau in der Ferne gesucht, in einer nicht hebräischen, aus Kusch stammenden Familie, eine Äthiopierin, eine Schwarze, von Aaron schlecht, bereits ein wenig rassistisch, aufgenommen, Myriam, eine Frau, die später konvertierte (vielleicht auch ihr Vater)«? Und so lernen wir, dass die Konvertierung nach gewissen Riten rechtens ist, selbst wenn man sie nicht empfehlen darf.) Ja, Moses ist wesentlich demütig (das ist seine Kenose), er will kein Geschlecht auf diesem unglücklichen Volk begründen, das umso unglücklicher ist, als es sich vergangen hat, indem es die Schuld der  Ungeduld auf sich lud – und diese Ungeduld, Tugend und Sunde derer, die nicht zu warten wissen, für die die Erlösung (der Messias) sofort kommen muss, wird eine Strafe nach sich ziehen, wenn auch nicht die Zerstörung. Danach beginnt alles von Neuem: Moses’ Aufstieg, seine Abwesenheit, die Frustration und die Sühnung der vierzig Tage und vierzig Nachte, der Gehorsam gegenüber dem Befehl, die zwei symmetrischen Tafeln aus Stein zu suchen und zu meißeln (ist das nicht art brut?), auf welche der Finger »Gottes« aufs Neue, ein zweites Mal das Gesetz schreibt (was die Griechen den Dekalog nennen werden). Da liegt auch die Demut Gottes, die jedoch ein Schriftmysterium bildet. Da die Demut Gottes den Wiederbeginn gestattet, bleibt, dass durch das Vergehen der Menschen gleichsam keine erste Schrift statthaben kann; jede erste Schrift ist bereits zweite, ist ihre eigene Zweithaftigkeit. Von daher die endlose Diskussion über die zwei Thorot (nicht die zerbrochene und die unbeschädigte Thora – diese Suche wäre mystische Versuchung und Gefahr), die geschriebene und die gesprochene Thora: Steht die eine über der anderen, ist die erste weiß, die andere schwarz – weiß, also jungfraulich (die weiße Seite) und gleichsam nicht geschrieben oder besser nicht der Lektüre unterworfen, dieser entweichend, von einer zeitlosen Spur gebildet, ohne Alter, eine Markierung, die allen Zeiten vorausgeht, selbst der Schöpfung vorausgehend? Jedoch sind diese Markierung, diese Spur und diese weiften Stellen kryptisch, schwierig oder unmöglich für den zu lesen, der sie nicht studiert, den Schiller ohne Lehrer, den vermessenen Kenner (der ich hier bin). Die mündliche Thora steht also hoher, insofern sie das Unlesbare lesbar macht, das Verdeckte enthüllt, ihrem Namen, der Lehre bedeutet, entspricht, unendliche Lektüre, die man nicht allein durchfuhren kann, sondern unter Anleitung eines Meisters und Lehrers, einer ganzen Generationenreihe derer, die damit beschäftigt sind, stets neue Schriftsinne ihr zu »entreißen«, ohne jedoch die erste Regel zu vergessen: Füge nichts hinzu, nimm nichts fort.

Sind wir nunmehr in die Diskussion zurückgefallen, die Jacques Derrida uns gerade nicht vergegenwärtigt hat, die wir aber – so seine Warnung -, sie auf Abstand haltend, nicht vernachlässigen sollten?  Vor dem Schriftmysterium der Tafeln hat sich Moses, wie man weiß, Fragen über die Stimme gestellt. Für ihn ist Sprechen keine Selbstverständlichkeit. Als »Gott« ihm befiehlt, zum Pharao zu sprechen, damit dieser die hebräischen Sklaven frei gibt (die Sklaverei abschafft), macht Moses das sehr unglücklich, da er (nach der Übersetzung Chouraquis) weiß und in Erinnerung ruft, dass er »von schwerem Munde, von schwerer Zunge, von unreinen Lippen« ist, also unfähig, die Sprache der Beredtheit und Rhetorik, die für die Großen dieser Welt angemessen ist, zu verwenden. Daher der göttliche Zorn. Moses wurde gerade auserwählt, weil er kein Schonredner ist, weil er Sprachschwierigkeiten hat: Ohne Beherrschung der Stimme, sicherlich ein Stotterer. Moses lasst sich also von seinem Bruder Aaron synchronisieren, der weltläufiger ist als er (es gibt immer Probleme oder Geheimnisse mit Brüdern), aber auch (ich bringe dies unter Zittern vor) nur synchronisiert sprechen kann, Worte wiederholend, und seien sie die allerhöchstens, aufgrund seines nicht physischen, sondern »metaphysischen« Stotterns. 

Daher kommt ein so gewagter Satz, dass ich überzeugt bin, es handelt sich um eine Verführung. Wenn Moses »Gott« befragt, hütet er sich davor, ihn nach seinem Namen zu fragen – eine furchtbare Indiskretion, denn hatte er diesen Namen erhalten, besäße er in gewissem Sinn Autorität über Ihn, den Benannten. Nein, was er fragt, fragt er nicht für sich und auch nicht, um den, dessen Name Name ist, zu erkennen, sondern für seine Begleiter, die ihn unweigerlich fragen werden: Woher hast du deine Offenbarung, in wessen Namen sprichst du? Die Hebräer, auch als die Sklaven, die sie sind, gehorchen nicht, ohne aufgeklart zu werden, sie wollen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Und die Antwort, die Moses gegeben wird, die wir aber nur als die von Moses übermittelte, mit dem notwendigen Stottern ausgedrückte kennen, wird Kommentare über Kommentare provozieren. Ich zitiere (rezitiere eher): »Ich bin der, der ist« (ontologische Deutung, Erststellung und Glorifizierung des Seins ohne Seiendes: Eckhart, der geliebte Meister (oder der alte Meister) des Rheinlands wird dem nicht zustimmen). Bald auch: »Ich bin der, der ich bin. « Diese Antwort kann nicht als Antwort, sondern muss als Antwortverweigerung gelten. Das ist eine erhabene oder enttäuschende Wiederholung, aber jetzt interveniert das vermessene Denken, und wenn das, was uns zu verstehen (oder zu lesen) gegeben ist, die Verdoppelung durch eine stotternde, durch das Stottern reiche Stimme wäre, dann würde Moses, sofern er sich auf Latein ausdruckt (warum nicht? er verfügt über so viele Zungen), sagen: Sum, Sum. Im Talmud wird, ohne dass auf die Singularität Moses’ verwiesen wäre, gesagt: Ein Wort wurde von Gott gesprochen, ich aber habe zwei gehört. Aber kehren wir zu den Fragen Moses’ zurück (außerhalb jeder Frage, außerhalb jeder Antwort), der keineswegs die Behauptung aufstellt, den Namen Gottes zu kennen (ich wiederhole meinerseits), sondern den Namen, auf den er sich für das störrische Volk Israels beruft. Und hier kommt eine weitere Antwort (wie sie von Meschonnic und Chouraqui übersetzt wurde): »Sein werde ich (hier eine große weiß Lücke, wie um Erwartung oder Unsicherheit zu markieren, aber nicht nur diese, sondern auch den Verweis auf eine nicht zeitliche Zukunft, von jeder Gegenwart ausgenommen), der sein wird.« (Edmond Fleg gibt uns dieselbe Übersetzung.) Gott gibt sich nicht unmittelbar als ein Subjekt, als ein loderndes »Ich«, sondern als für das hebräische Volk handelnd und abhängig von dessen Handlung, eine Handlung gegenüber Gott und gegenüber dem Nebenmenschen. Das kann man diesmal, und in diesem Fall vielleicht missbräuchlich, unter Verwendung eines griechischen Namens, die Kenose nennen: souveräne Demut. Wie wir von Rachi wissen, gibt Moses uns jedoch im selben Moment, als er: »Das ist auf ewig mein Name« hört, durch einen Vokalwechsel zu verstehen: »Mein Name muss verborgen bleiben«, was die Schicklichkeit – oder die Konventionalität – der Diskretion Moses’ bestätigt. »Gott« sagt auch, wenn ich mich recht erinnere, »Gegenüber den Patriarchen habe ich mich ebenfalls nicht zu erkennen gegeben«. Nichtsdestotrotz ist der Name, der Moses offenbart wird, um Israel zu erwecken, ein so wichtiger (ein so zum Verloschen bereiter) Name, dass man ihn nicht vergeblich aussprechen darf: selbst als gesagter nicht-gegenwärtig und als Unbekanntes angerufen – aphonisch, sagt David Banon, aber nicht asemisch, versprochener Gott, Gott des Versprechens, aber auch Gott des Entzugs des Versprechens.

Gott, sagt Levinas, ist nicht Erkenntnis, und auch nicht schlicht und einfach Nicht-Erkenntnis, er ist Verpflichtung des Menschen allen anderen Menschen gegenüber. Was den Namen betrifft, der allein der Name Yahwehs ist, wird von Chouraqui präzisiert, dass heute – in der Diaspora – niemand weiß, wie er ausgesprochen wurde, denn, fügt Levinas hinzu, das Tetragrammaton konnte allein vom ins Allerheiligste eintretenden Oberpriester am Versöhnungstag ausgesprochen werden, d.h. für das Judentum seit dem Exil, niemals (Jenseits des Buchstabens).

Jacques Derrida sagt, als er die Zwange der Verdoppelung der Thora erläutert, der Verdoppelung, die bereits in die Weise eingeschrieben ist, in der die Thora »mit dem Finger Gottes« geschrieben wird: »Die Thora ist mit weißem Feuer auf schwarzes Feuer geschrieben. « »Das weiß Feuer, ein in unsichtbaren, dem Blick entweichenden Buchstaben verfasster Text, gibt sich im schwarzen Feuer der mündlichen Thora zu lesen, die nachträglich hinzutritt, um die Konsonanten zu zeichnen und die Zeichensetzung der Vokale zu vollziehen: Feuergesetz oder Feuerwort, wird Moses sagen.«

Wenngleich aber die steinerne Thora Gottes Inschrift ist, Inschrift, die als solche die Gebote entfaltet, eine Schrift, die nicht anders denn als Vorschrift gelesen werden kann, so steht in Exodus (24, 4) aber auch geschrieben, dass »Moses alle Worte Gottes aufschreibt« – und dies zu einer Zeit vor den Tafeln (wenn man annehmen darf, und es gibt allen Grund, daran zu zweifeln, dass es zu einem solchen Moment, dem die Gegenwart fehlt, ein Vorher und Nachher – also eine narrative Ordnung gibt). Moses hat also die Gabe der Schrift, wenngleich er nicht die Gabe der Rede besitzt – und er schreibt, weil die Alten Israels, die Weisen zuvor erklärt haben: »Alle Dinge, von denen >Gott< spricht, werden wir tun. « Vielleicht verstehen sie sie nicht, oder, in der Übersetzung Chouraquis, sie dringen nicht ein in ihre Redlichkeit und auch nicht in ihre Wendungen und Windungen, aber das Entscheidende ist das Tun, und dieses Versprechen des Vollzugs versiegelt Moses’ Schreiben, wird durch Moses’ Schrift – Schrift und Übertrag ins Gedächtnis. Beiläufig bemerken wir hier den Unterschied, der sich zwischen Platon und Moses bildet: Für den einen ist die äußerliche, fremde Schrift schlecht, da sie dem Gedächtnisverlus  durch einen Zusatz behilft und somit die Schwache der lebendigen Erinnerung befördert [warum mich erinnern, wenn es geschrieben ist?). Für Moses ist es sicher so, dass die Schrift die Gedächtnisbildung sichert, aber sie ist auch (oder zunächst) das »Tun«, das »Handeln«, die Äußerlichkeit, die der Innerlichkeit vorhergeht oder sie einrichten wird – so wie das Deuteronomium, in dem Moses die gesamte Geschichte wieder aufnimmt, indem er »Ich« sagt, das schwierige Buch Exodus verdoppelt und verlängert. 

Man kann sich hier eine müßige Frage stellen: Wer ist Moses? Stellen wir allen bereits gegebenen Antworten folgende an die Seite: Ein ägyptischer Prinz, der sein Volk verrat, um sich einem anderen. unglücklichen, arbeitssamen, versklavten Volk zu widmen. Halten wir das erhabene Bild, das uns die Kunst gibt, auf Distanz: der Übermensch, das hebräische Äquivalent des Solon und des Lykurg. Im Gegenteil  (wenngleich er Privilegien besitzt, denn er ist der einzige, der »hinaufsteigt«, ohne in die Nähe der Himmel zu gelangen): er wird uns als Schwacher gezeigt, schlecht sprechend (von schwerfälliger Zunge), so ermüdet, dass seine Gesundheit durch die Dienste, die er leistet, ruiniert wird (sein Schwiegervater, ein Mann mit Verstand, wird ihm sagen: Mach nicht alles selber, übe nicht für die kleinen Dinge und die großen Dinge Gerechtigkeit, du wirst nicht überleben – und Moses stimmt zu). Ermüdet, als Amalek Krieg gegen die Hebräer fuhrt, während diese kaum aus Ägypten und der Sklaverei geflohen sind und eine bunt zusammengewürfelte Truppe bilden (verwirrte Masse, Herde) bestehend vor allem aus Frauen und Kindern, den »Balgern« wie Chouraqui sagt. Hier liegt die Bösartigkeit Amaleks, die ihn als den Auserwählten des Bösen schildert. Moses ist kein Kriegsherr. Dennoch setzt man ihn oben auf einen Hügel, wie es die Generale tun und Napoleon selbst es tut. Aber man muss ihm helfen, wenn er Befehle gibt, welche scheinbar einfach sind: Er hebt den Arm, um gen Himmel zu weisen, und die Hebräer siegen – aber gerade sein Arm ist schwer, und man muss ihm helfen, damit er diese Geste ausführen kann – sonst sinkt sein Arm herab (das ist nicht allein Lässigkeit, es ist auch eine Lektion), und Amalek siegt.

Ist Moses ein Vermittler? Vermittler für sein Volk, das er zur Ordnung einer Gemeinschaft bildet und gegen das er wettert, wenn es schwach wird. Und dieses Volk erkennt sich nicht in ihm: »Wir wussten nicht«, sagen die Hebräer zu Aaron, der indes sein Bruder ist, »wer derjenige war, der uns führte.« Ein Anderer, trotz seiner Brüderlichkeit, seiner ständigen Fürsprachen, auch trotz seiner Bestrafungen. Ein Vermittler Gottes, dessen Befehle er weitergibt? Gott ist ohne Vermittlung, sagt, wenn ich mich nicht tausche, Levinas. Von daher ergibt sich, dass die Verantwortung Moses’ frei ist und dass er. als Strafe, die zu vielen Reden, mit denen er Gott belästigt hat, ertragen muss, Anrufungsreden, Reden des Flehens für die Flüchtlinge, die vergessen, dass sie es sind und dass sie sich »niederlassen« wollen.

Man kann sich fragen, worin das »Vergehen« Moses’ bestand, das Vergehen, das ihn davon abhielt, das »gelobte Land« zu erreichen.  Aber schon in diesem Wunsch, anzulangen und sich zur Ruhe zu setzen, gibt es eine Hoffnung zu viel. Er kann sehen und nicht besitzen.  Die für ihn vorbehaltene Ruhe ist vielleicht eine höhere. »Es ist eines der Mysterien Elohims«, die nicht zu enthüllen sind, aber fordern, sich in unendlicher Lehre, in unendlichem Studium mit ihnen zu beschäftigen. Man sagt, wenn man das Deuteronomium analysiert: Moses konnte seinen Tod nicht erzählen, aufschreiben (Skeptizismus der Kritik). Warum nicht? Er weiß (in einem Wissen, das nicht aufgeklartes Wissen ist), dass er durch »Gott« stirbt, »nach dem Munde Gottes«: letztes, allerletztes Gebot, in dem die gesamte Sanftheit des Endes liegt – jedoch verstohlenes Ende. Der Tod, der notwendigerweise im Leben ist (seit Adam), »hat nicht hier im Leben statt« (Derrida). Und Gott, indem er sich zum Totengräber macht (Levinas) – Nahe, die nicht das Überleben verspricht – bestattet ihn im Tal, im Lande Moab, an einem Ort ohne Ort (atopisch). »Niemand kennt bis heute sein Grab«, was die Abergläubischen ermächtigt, an seinem Tod zu zweifeln, wie man am Tod Jesu zweifeln wird. Er ist tot, »aber sein Auge ist nicht trüb geworden, seine Kraft ist nicht gewichen.« Er hat einen Nachfolger, Joshua, und er hat keinen (keinen direkten Erben; er selbst hat diese direkte Weitergabe verweigert). Noch hat sich in Israel kein Erleuchteter wie Moses erhoben. »Noch nicht.« Verschwinden ohne Versprechen der Wiederkehr. Aber das Verschwinden des »Autors« verleiht der Lehre, Schrift (Spur vor jedem Text) noch mehr Notwendigkeit, und auch der Rede, Sprechen im Schreiben, Rede, die keine Schrift, die andernfalls tot wäre, beleben wurde, sondern eine, die uns aufruft, in Richtung der Anderen zu gehen, in der Sorge um Ferne und Nahe, ohne dass es uns zu wissen gegeben wäre, dass es zunächst der einzige Weg in Richtung des Unendlichen ist.

moses

pag 250-251

HINWEISE:

S. 29-34: »Blanchot sagt, Zusammen und Noch Nicht. Das kann nie zu Ende gedacht werden: Zusammen und Noch Nicht. Das ist ein Ausgang durch Worte, aber eigentlich ist dies das Phänomen, dass ich für den Anderen sterben kann. Sicher, er ist vorübergegangen, aber auch: er überlebt, er lebt weiter, er ist in diesem Sinne die Zukunft. Er ist nicht vorbeigegangen in seine Vergangenheit, die nie meine Gegenwart war. Und daher gibt es eine gewisse Anarchie in dieser Vergangenheit. […] Für das Beginnen der Zukunft gibt es zwei Worte: avenir, das ist das, was ankommen wird, und future. Gott ist future, jedenfalls so, wie ich ihn als Anderen denke. Kein Gott, der ein Happy End versichert.« (33f. ) Von daher bezieht sich Blanchots Hinweis, dass bei Levinas Gott nicht als »Erkenntnis, und auch nicht schlicht und einfach (als) Nicht-Erkenntnis, (sondern als) Verpflichtung des Menschen gegenüber allen anderen Menschen« zu verstehen ist, auf Levinas’ philosophisch-theologisches Werk insgesamt. Der Gedanke zum Tetragrammaton, dem nicht auszusprechenden Gottesnamen YHWH, findet sich in Emmanuel Levinas: Au delà du verset, Paris 1982 / Jenseits des Buchstabens, übers. v. Frank Miething, Frankfurt/M. 1996.

 

Blanchots Moses-Deutung bezieht sich hauptsachlich auf Ex. 3-5, 19-24 und 32-34. Der Verweist auf Moses’ Stottern findet sich auch ähnlich bei Freud in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion”: »Moses soll „schwer von Sprache“ gewesen sein, also eine Sprachhemmung oder einen Sprachfehler besessen haben [… ]. « (in: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 101- 251, hier: S. 132). Die Einführung des christologischen Begriffs der Kenose in Bezug auf Moses mag überraschen, ironisch oder gar gewaltsam klingen. Es gibt allerdings einen Deutungsstrang, der den paulinischen Begriff der Kenose – die Selbst-Erniedrigung Christi – als Matrix des Idealismus versteht und so eine Bahn in die moderne Philosophie legt. Zu Kenose in philosophischer und theologischer Hinsicht vgl. Martin Sells, Art. »Kenose«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. X, Sp. 813-815; Johannes Webster, »Kenotische Christologie«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. IV, Sp. 929-931; von einem wichtigen Schelling-Spezialisten Frankreichs, Xavier Tilliette, den Aufsatz: »L’Exinanition du Christ: théologies de la kénose«, in: Le Christ visage de Dieu »Les quatres fleuves«: Cahiers de recherche et de réflexion religieuses 4, Paris 1975, S. 48-59. Zu Hegel und Kenose vgl. Elio Brito, La Christologie de Hegel. Verbum Crucis, Paris 1983 und sowie vor allem Catherine Malabou, L’avenir de Hegel, Paris 1996, S. 131-134. Auch der Heidegger-Exeget Jean Beaufret verweist in seinen Notes sur la philosophie en France au XIXe siècle (Paris 1984) darauf, dass Hegels Philosophie als ein »ausgeführter Kommentar des >semet ipsum exinanivit< (er hat sich selbst entleert) des Paulus« verstanden werden kann (S. 53).

 

Die Bibel-Übersetzung von Andre Chouraqui: La Bible, ist 1989 erschienen; sie versucht, die hebräische Syntax dem Französischen zu unterliegen. Der Schriftsteller und Philosoph Edmond Fleg übersetzte Teile der Bibel (La Bible. Le Livre de la Sortie d’Égypte, Paris 1963 und Le Livre du commencement, Paris 1946) und verfasste eine Version der Moses-Legende: Moise, Paris 1928 / Moses, München 1929. Levinas hat ihm einen Aufsatz gewidmet, der sich Flegs Neufassung einer Midrasch-Erzahlung widmet: »Une nouvelle version de Jésus raconté par Ie Juif errant< d’Edmond Fleg«, in: Difficile Liberté. Paris 1963, S. 148-151. Die Arbeit des Judaisten David Banon, die mit Blanchots Überlegungen in Verbindung stehen, findet sich u.a. in dessen: La lecture infinie. Les votes de I’interpretation midrachique (Die un.endliche Lektüre. Die Interpretationswege des Midrasch), Paris 1987.

Den Ausspruch Gottes im brennenden Busch »Ich bin der, der ich bin« gegenüber Moses: »Ehyeh asher ehyeh« umgibt ein Gestrüpp von Übertragungs- und Deutungsfragen. Die ontologisierenden Übersetzungen, die sich an Vorgaben des Griechischen und Lateinischen orientieren: »eimi to on« (»ich bin das seiende«) oder »ego sum qui sum« (»ich bin derjenige, der ist«) verbinden, wenn man wie Pascal spricht, den Gott der Philosophen und den sprechenden Gott der Bibel. Deren Trennung oder Nicht-Trennung bleibt bis heute, bis z. B. in die Frage des Verhältnisses von Psychoanalyse zum »Sprechen Gottes« wichtig. So hat Jacques Lacan diese Vermischung vermieden, indem er »Je suis ce que je suis« (»Ich bin was ich bin«] oder an einer anderen Stelle »Je suis qui je suis« [»Ich bin wer ich bin«] übersetzt. Auch hier ist Gott verjüngt auf seine eigene Aussage, genau auf die Aussage des Aussagenden, die sich als Mangel an allem Weiteren als dieses Markierung markiert. Vgl. dazu Solal Rabinovitch, »Penser l’atheisme dans la psychanalyse“ (»Den Atheismus in der Psychoanalyse denken»), in: Carnets de I’École de psychanalyse Sigmund Freud, Nr. 73, 2009, S. 65-77; Francis Balmes: Dieu, Ie sexe et la vérité, Toulouse 2007. Die Übersetzung von Chouraqui »Ehie asher ehie! – Je serai que je serai!« (»Sein werde ich, der ich sein werde«, Chouraqui: La Bible, a.a.O., S. 120) rechtfertigt sich dadurch, dass die Imperfekt-Form des Verbs im Hebraischen futurische Bedeutung annehmen kann. Der Begriff »asemisch« flndet sich bei Nicolas Abraham und Maria Torok: Le Verbier de I’homme aux loups, Paris 1976 / KryptonymieDas Verbarium des Wolfsmanns, übers. v. W. Hamacher, Frankfurt/M. 1979.

Moses

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